Umzugshelfer vom Polenmarkt

Der Fußweg zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, die ganze Warschauer Straße entlang, über die Gleisanlagen und die Spree hinweg, dauerte fast eine Stunde, so wie mit der Bahn. Das war mir zu lange. Ein Fahrrad musste her. Damit käme ich am schnellsten durch die Stadt und wäre schneller als die U-Bahn, bei der ich am Alexanderplatz zeitraubend umsteigen musste. Geld für ein neues Rad hatte ich nicht, also ging ich auf den größten Flohmarkt Berlins am Reichpietschufer, zum sogenannten Polenmarkt[*]. Ich war mir sicher, dass ich auf so einem großen Flohmarkt ein Rad finden würde.

Ich suchte nicht lange, bis ich zwischen zwei Flohmarktständen ein Fahrrad meines Herzens stehen sah, ein einfaches Rad, genau so wie ich es mir wünschte. Dem jungen Verkäufer gab ich fünfzig D-Mark und schob es durch die Menschenmasse. Ich hatte den Ausgang noch keine zehn Meter hinter mir gelassen, da kam ein Pärchen auf mich zu und blieb vor mir stehen.
„Unser Fahrrad!“, riefen sie und freuten sich begeistert. Das hörte sich für Außenstehende sicher nach Glück an, nur nicht für mich.
„Das ist mein Rad“, sagte ich sofort, „das habe ich vor fünf Minuten hier gekauft. Ich bin noch nicht einmal damit gefahren!“
„Uns ist das Rad in der Nacht gestohlen worden. Wir hatten die Idee, dass es hier auf dem Polenmarkt verkauft werden könnte. Wir haben uns deshalb schnell hierher auf den Weg gemacht.“
Na toll, dachte ich. Und nun? „Ich habe es hier gekauft“, sagte ich nochmals ratlos.
„Das glauben wir dir ja, aber trotzdem ist es unser Rad. Könntest du bitte bei der Polizei Angaben zum Verkäufer machen?“, baten sie mich. Um mich nicht unnötig verdächtig zu machen, lehnte ich diese Bitte lieber nicht ab, da keine dreißig Meter weiter eine Wanne[**] stand und unser Treiben bereits beobachtete. Wir gingen also zusammen auf die Wanne zu, das Paar machte seine Aussagen und ich bestätigte meinen Kauf. Die Polizei nahm mir das Fahrrad ab und übergab es dem Pärchen. Ich war verärgert, fünfzig D-Mark hatte ich ausgegeben. Das war für mich nicht wenig Geld, und nun sollte ich weiterhin ohne Rad bleiben? Nachdem das Pärchen gegangen war, forderte mich einer der Polizisten auf, in den Wagen zu steigen, um auf die Kollegen von der Kripo zu warten. Zwecks weiterer Befragung, wie sie sagten. Was wollten sie mich noch befragen? Warum überhaupt Kripo? Wegen eines Fahrrads? Verwundert stieg ich in die Wanne. Kurz darauf schlossen sich hinter mir die Türen. Die Sonne war so schnell weg wie meine Laune. Was passierte hier? Ich fing an zu schwitzen, von außen wie von innen. Wir hatten einen heißen Sommertag und kein Fenster stand offen. Die Luft wurde stickig und mir wurde schlecht.
Das wird doch jetzt hoffentlich nicht mit meiner Hausbesetzung zu tun haben, sorgte ich mich im nächsten Moment. Mein Gedankenkarussell begann sich zu drehen. Es war erst eine Woche her, seit ich das Haus besetzt hatte. Dann stand zwei Tage später völlig überraschend der Bürgermeister vor mir, und prompt wurde ich nun festgenommen. Sie prüften meine Personalien. Was wussten sie über mich? Was hatten sie in ihren neu angeschafften Computern schon alles über mich gespeichert? Ob überhaupt irgendetwas über mich gespeichert war? Das bekam ich nicht mitgeteilt, weshalb ich wild spekulierte. Warum dauerte das so lange? Trugen sie jetzt alle möglichen Informationen von allen möglichen Computern zusammen, während ich wartete? Was konnten sie überhaupt über mich und meine Hausbesetzung wissen? Meine Personalien waren im Osten absolut niemanden bekannt. Nie hatte ich meinen Ausweis irgendjemandem im östlichen Teil der Stadt vorgelegt, weder einem Mitbesetzer noch sonst einer Person. Die Polizei konnte also nichts über mich in Ostberlin wissen, überhaupt nichts, beruhigte ich mich. Es ratterte trotzdem in meinem Kopf und ich spekulierte wild über mögliche Verbindungen zwischen all dem. War das jetzt wieder einmal Zufall? Ich wollte an Zufall nicht glauben.

Nach einer langen halben Stunde, nachdem viele solche Szenarien durch meinen Kopf gerauscht waren, sah ich durch die vergitterten Fenster einen schwarzen Mercedes angefahren kommen. Zwei Männer und eine Frau stiegen aus. Sie trugen keine Uniformen. War das etwa die Kriminalpolizei? Sie wechselten mit einem Polizisten ein paar Worte und stiegen dann zügig zu mir in die Wanne. Wieder sagte ich meinen Namen, und ohne Ankündigung griffen sie in meine Taschen. Ich wehrte mich instinktiv, niemand hatte mir bisher einfach so in meine Tasche gefasst. Sie schauten mich mit aufgerissenen Augen an und nahmen mir meinen Geldbeutel und alle anderen Gegenstände ab. Sie warfen alles achtlos in eine Tüte. Ich war verunsichert und fragte mich, was da vor sich ging. Ich kannte so etwas nicht, hatte nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt und protestierte vor aufkommender Angst gegen diese unsensible Behandlung. Ich geriet fast in Panik. Vermutlich machten mich genau diese Nervosität und Aufgeregtheit verdächtig, die aus meiner Unerfahrenheit entsprangen, womit die Kriminalpolizei wiederum keine Erfahrung hatte und in mir offenbar nur einen Täter sehen konnte. So etwas wie Respekt schien ihnen absolut unbekannt zu sein. Sie durchsuchten mich von Kopf bis Fuß, befragten mich erneut und sagten dann: “Wir fahren Sie jetzt nach Hause.”

Schön, dachte ich, sie haben wohl ihren Irrtum eingesehen und bieten mir als eine kleine Entschädigung wenigstens diese exklusive Fahrt an. So sparte ich mir eine Fahrkarte, immerhin. Aber dann wurde mir schlecht. Wohin wollten sie mich fahren? Nach Hause? Ach du grüne Neune! Wo war denn mein Zuhause? Wohin sollte ich sie jetzt führen? Ich konnte ja schlecht mit ihnen nach Ostberlin in die Liebigstraße fahren. Kurz dachte ich über diese Option nach. In den Osten durften Beamte ja nicht fahren, es war immer noch fremdes Staatsgebiet. Sie müssten also an der Grenze Halt machen und mich dort gehen lassen. Was, wenn sie trotzdem rüberfuhren, sie waren ja zivil unterwegs und nicht als Beamte erkennbar? Wollte ich das riskieren? Und dann in die Rigaer Straße? Wie sollte ich meinen GenossInnen erklären, wer diese Herrschaften waren? Sollte ich etwa sagen: Das ist die Kriminalpolizei, die so nett ist, mich wegen eines Irrtums nach Hause zu fahren? Das schien mir dann doch etwas zu gewagt. Nein, das war keine gute Idee, das konnte nur schiefgehen. Ich ließ diesen wagemutigen Gedanken lieber fallen und wollte mein Glück nicht herausfordern. Ich war immer noch in Kreuzberg gemeldet und meine WG-Frist war noch nicht abgelaufen. Ich wohnte dort also ganz offiziell und hatte sogar den Wohnungsschlüssel dabei. Auch meine beiden Taschen mit Klamotten waren noch dort, ich hatte sie bisher nicht nach Friedrichshain gebracht. So führte ich die Kripo zu meiner ganz offiziellen und ordentlich gemeldeten Adresse, zur Kreuzberger WG, und hoffte nur eines: keinen Fehler zu machen, damit das alles nicht amüsanter wurde, als mir lieb war.

Im Auto fragte mich einer der beiden Polizisten, als wäre ich ein Dieb: „Haben Sie denn eine Quittung?“
„Was für eine Quittung?“
„Na, ne Kaufquittung?“
„Nein, natürlich nicht“, ärgerte ich mich über so eine merkwürdige Frage.
„Es ist nicht üblich, auf Flohmärkten Quittungen auszustellen. Jedenfalls habe ich noch nie eine Quittung auf irgendeinem Flohmarkt gesehen“, belehrte ich sie.
„Sie wissen doch, dass auf Flohmärkten alles gestohlen ist“, pflichtete die Kripo-Beamtin ihrem Kollegen bei.

„Weder weiß ich das, noch ist das so. Dort, wo ich herkomme, kann ich mein Rad unverschlossen über Nacht auf dem Dorfplatz stehen lassen, ohne dass es geklaut wird“, sagte ich und fügte nach einer kurzen Pause rotzfrech hinzu: „Wenn Sie so klug sind und wissen, dass hier alles gestohlen ist, warum verhaften Sie dann nicht die Verkäufer?“
Die Spannung im Auto steigerte sich mit meinem letzten Satz enorm. Die Stimmung spitzte sich bis kurz vor einer Eskalation zu, sodass der Kriminalbeamte mir unterschwellig Gewalt androhte. Ich schwieg dann lieber und dachte mir meinen Teil.

Vor dem Haus angekommen, sagte ich: „Das ist ganz oben.“ und hoffte sie damit abzuschütteln. Die Kripo beeindruckte das nicht und sie begleiteten mich bis in das oberste Stockwerk vor die Wohnungstür.
„Es gibt jetzt eine Durchsuchung“, sagte erst jetzt einer der Kripobeamten.
„Mit welcher Begründung? Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?“, fragte ich schlagfertig zurück. „Gefahr im Verzug“, kam es sofort über ihre Lippen, routiniert und eingeübt. Sie nahmen meinen Wohnungsschlüssel aus der Tüte und steckten ihn ins Schloss. Der Kriminalbeamte fummelte damit herum und sagte nach einer Weile: „Der passt nicht.“ „Der passt“, widersprach ich sofort und begann heißkalt zu schwitzen. Denn dieser Schlüssel war ein WG-Schlüssel, also eine Kopie einer Kopie der Kopie des Originalschlüssels. Es bedurfte daher eines gewissen Feingefühls, um mit diesem Schlüssel die Tür erfolgreich zu öffnen. Dieses Feingefühl fehlte der Kripo. Sie gaben mir den Schlüssel in die Hand und sagten: „Machen Sie mal auf!“ Ich war nervös genug, um mit zitternder Hand jetzt auch kein Feingefühl mehr zu haben. Ich holte tief Luft, fummelte ebenfalls am Schloss herum und verfluchte sie still und leise.

Klick! – Die Tür sprang tatsächlich auf, und ich war erst einmal sehr erleichtert. Die Kripo schob mich beiseite und ging zuerst in die Wohnung. Meine Mitbewohnerin kam uns schon im Flur entgegen und erschrak vor der fremden zivilen Person, die nicht in die Wohnung gehörte. „Das ist nur die Kriminalpolizei“ rief ich geistesgegenwärtig hinter den Beamten hervor, um sie sofort zu beruhigen und schnell zu informieren und damit zu vermeiden, dass sie womöglich einen verfänglichen Spruch von sich gab, wie: „Sind das etwa deine Hausbesetzerfreunde aus der Liebigstraße?“

Die Kripo stellte sich ihr kurz vor und betrat das Zimmer, das ich gemietet hatte. Bis jetzt ging alles gut. Als sie begannen, die Schränke zu durchsuchen, klärte ich sie darüber auf, dass ich dieses Zimmer nur zur Zwischenmiete gemietet hatte und all die Gegenstände, Schrank, Schreibtisch, Bett, Lampe, Fenster, Teppich, Tapeten etc. nicht mein Eigentum waren und sie daher das Eigentum einer anderen Person durchsuchten. Es gab also nichts, was sie durchsuchen konnten außer meinen Körper, den sie schon durchsucht hatten, und natürlich noch meine beiden Taschen. Auf diese stürzten sie sich dann und warfen alle meine Klamotten achtlos quer durch das Zimmer, nach allen Himmelsrichtungen. Als die Taschen leer waren und sie nichts darin gefunden hatten, auch kein weiteres Fahrrad, füllten sie ein Protokollformular aus, das ich nur noch unterschreiben sollte. Die Durchsuchung sei ja freiwillig geschehen, meinten sie und wollten ein Kreuz darauf setzen.
„Nein“, sagte ich, „das war nicht freiwillig.“

Nachdem die Kripo gegangen war, der Zauber dieser Durchsuchung ein Ende gefunden und ich mich beruhigt hatte, staunte ich nicht schlecht, wie es in meinem WG-Zimmer nun aussah. Beide Taschen mit Klamotten waren von der Kripo flächig verteilt worden und bedeckten nun das ganze Zimmer wie ein Flickenteppich. Ich staunte auch darüber, dass sie meine Erklärung berücksichtigt und weder Schrank noch Schublade durchsucht hatten, sondern nur die von mir als mein Eigentum genannten Taschen.

Ich stopfte meine Klamotten wieder in die beiden Taschen und nahm sie endgültig mit nach Friedrichshain ins besetzte Haus. Wieder ohne Fahrrad, zu Fuß über die Oberbaumbrücke. Ich erwartete die Jugendlichen, die nach Geld fragten, um glauben zu können, dass heute auch noch der Papst um die Ecke kommen würde. Es war spät und immer noch taghell. Nach Geld fragende Jugendliche, der Papst oder sonstige Überraschungen gab es an diesem Tag, zum Glück, keine mehr. Ich war müde und froh, endlich nach Hause zu kommen. Ich warf die Tasche mit der Durchsuchungsquittung der Polizei in die Ecke meines leeren Zimmers und rief: FREIHEIT!



[*] Nach dem Mauerfall nutzten sehr viele Menschen aus dem Osten, überwiegend aus dem nahegelegenen Polen, die offene Grenze, um Hab und Gut gegen etwas harte D-Mark einzutauschen. Am Potsdamer Platz gab es eine große ungenutzte Fläche, auf der sich Berlins größter Trödlermarkt, der „Polenmarkt“ angesiedelt hatte.
[**] Als Wanne werden die vergitterten Mannschaftswagen der Berliner Polizei genannt. Auf den beidseitigen Sitzbänken haben zehn bis zwölf Personen Platz.